Was ist kreative Trauerarbeit?

Kreativität ist ein Ausdruck der Seele und jedem Menschen zugänglich. Mit ihren unendlichen Spielarten bietet sie uns die Möglichkeit aktiver Lebensgestaltung - auch im Trauerprozess. Gemeinsam machen wir sichtbar, was nicht in Worte gefasst werden kann, finden individuelle Möglichkeiten der Erinnerung und etablieren Rituale zur Trauerbewältigung.


Beispiel 1

Magische Schiffchen

Sandra verlor ihre Mutter als sie 12 Jahre alt war an den Krebs. Nun ist sie 29 und steht kurz vor ihrer eigenen Hochzeit. Eine besonders sensible Zeit für jede Frau, in der die Mutter mehr fehlt denn je und nun  die längst überstanden geglaubte Trauer wieder aufleben lässt. Gerade jetzt - wo sie doch so glücklich sein sollte - hat Sandra das Gefühl, dass Etwas offengeblieben, nicht erledigt worden ist. Sie schreibt ihrer Mutter einen Brief - acht Seiten wird er lang, es gibt einfach so viel zu erzählen. Gemeinsam falten wir die Seiten zu kleinen Bötchen, pflücken Sommerblumen und schicken den Brief an einem Teich auf die Reise. Ich lese einen Text der mir passend erscheint. Die Sonne scheint hell, Wind kommt auf und an einer Stelle des Wassers kräuseln sich die Wellen und brechen das Licht. Es funkelt, als hätte jemand Goldstaub gestreut. Der Wind treibt die Bötchen genau an diese Stelle, und mittlerweile voll Wasser gesogen, sinken sie hinab in die Tiefe. Ein absolut magischer Moment, der uns beide sprachlos macht. Der Teich fungiert hier gewissermaßen als Postkasten, über den  Nachrichten auf die andere Seite geschickt werden.

Beispiel 2

Mitternachtsliebe

Carola ist 44 Jahre, als sie ein plötzlicher Herztod in Sekunden aus dem Leben reißt. Sie hinterlässt zwei Kinder, fünf Katzen, recht viel Chaos, einen geschockten Freundeskreis und eine Kladde voller Gedichte. Selbst verfasst, über Jahre mitgetragen, immer wieder bearbeitet und erweitert. Sie erzählen von Lebensangst, von Liebe und Leidenschaft, von Trauer, Wut und Ratlosigkeit, von Fülle und Leere. Nur ganz selten hat sie eines der Gedichte mal gezeigt und wenn, dann zaghaft und vorsichtig. Trotz des Schocks über das abrupte Lebensende entschließt sich ihr Lebenspartner, diesen Gedichten einen würdigen Rahmen zu geben. Zum einen als Vermächtnis einer Mutter an ihre Kinder, aber auch zur Erinnerung für Freunde und Familie. Erstaunt über die Vielfalt - 90 Gedichte werden es sein - wird dieser Schatz gehoben. Überarbeitet, gesetzt, illustriert, gedruckt und handgebunden. Und am ersten Todestag können es alle in den Händen halten. Am Abend gibt es eine kleine musikalische Lesung und jeder der Gäste darf ein Exemplar mit nach Hause nehmen. Was für ein Geschenk!

Beispiel 3

El Torres.

Dieser Stierkopf war einst ein Theaterrequisit und hat das Drama "Bernada Albas Haus" bereichert. Danach  hing der Kopf - damals noch unbemalt -  über viele Jahre relativ unbeachtet in einem Freizeitraum einer Familie. Eines Tages befand das 76-jährige Familienoberhaupt, dass es an der Zeit sei, dem Tier ein Gesicht zu geben. Selbst maltechnisch nicht so begabt, sollte diese Aufgabe eine Künstlerin übernehmen. Die Familie jedoch war verwirrt - bei dem Gespräch über die Ausführung bestand der Auftraggeber darauf, den Stier im Augenblick seines Todes zu porträtieren - dann, wenn seine Augen nach dem Kampf in der Arena brechen und der Torero jubelt. Die Angehörigen schüttelten mit dem Kopf: Warum soll ein so grausiger Moment hier unsere Wand schmücken? Aber der Familienvater setzte sich durch. Ein halbes Jahr später begann sein Kampf mit dem Tod, und ähnlich wie beim Stierkampf, bei dem nach und nach auf die lebenswichtigen Organe gezielt wird, um den Stier zu besiegen, stellten auch die Organe des Familienvaters ihren Dienst ein. Doch dem Tod wurde das Feld nicht kampflos überlassen - bis zum letzten Atemzug war der Tod ein Gegner, den es zu besiegen galt. Und wenn schon unvermeidbar, dann doch mit Würde und erhobenen Hauptes. Der Stierkopf wurde für die Hinterbliebenen ein Symbol, nicht kampflos aufzugeben. Noch immer hat er seinen Platz und wird ihn - im Gedenken an den Vater - auch immer haben.